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Wie kann das sein?

 

Nüxei. Fast am Ende der Welt, so der Eindruck auf den letzten Kilometern der Anreise. Hier bin ich noch nie gewesen. Wieder Idylle. Landschaft, so weit das Auge reicht. Pferde auf der Weide, Fachwerkhäuser, eine riesige Fachwerkscheune. Vor uns ein Blumengarten.

Wie kann das sein? Dass es keine Fotos von diesem KZ-Außenlager gibt.

Wie kann das sein? Dass Häftlinge hier verhungert sind, obwohl drum herum Landwirtschaft gewesen ist?

Wie kann das sein? Dass die Inhaftierten seitens der Bevölkerung ganz selbstverständlich als „die Zebras“ bezeichnet wurden?

Wie kann das sein? Dass auf dem Lagebild des KZ, angefertigt nach Angaben von Überlebenden, das Gebäude auf der Betonplatte die Bezeichnung „Küche“ trägt, obwohl hier – ebenfalls nach Angaben Überlebender – Leichen aufbewahrt wurden?

Wie kann das sein? Dass der kilometerlange Bahndamm für die Helmetalbahn überwiegend per Handarbeit von KZ-Häftlingen gebaut wurde?

Wie kann das sein? Dass die SS die Häftlinge am 07. April 1945 noch auf den „Marsch der Ungewissheit“ über den Harz geschickt hat? Ein Todesmarsch, der sie eigentlich nach Bergen-Belsen führen sollte.

Wie kann das sein? Dass einer der Häftlinge, ein Niederländer, im Lauf seines Lebens immer wieder an den Ort seines Leidens zurückgekehrt ist?

Wie kann das sein? Dass dieser ehemalige KZ-Inhaftierte anlässlich eines seiner Besuche in Nüxei noch in den 60er Jahren im örtlichen Gasthof als „der Hühnerdieb“ bezeichnet wurde?

Wie kann das sein? Dass Jahrzehnte später Knochenfunde am Bahnhof Tettenborn Hinweise auf ein Massengrab gaben, ohne dass gezielt danach geforscht wurde, wer hier ums Leben gekommen ist?

Wie kann das sein? Dass neben der Betonplatte heute der Kürbis wächst, die Feuerschale auf gemütliche Abende hinweist und an der Stelle, an der Lagergebäude und Wachtürme standen, jetzt Blumen in voller Pracht blühen?

Wie kann das alles sein? Der Besuch in Nüxei wirft so viele Fragen auf? Ohne die umfassenden Informationen des Ortsheimatpflegers wäre ich kaum auf die Idee gekommen, dass in dieser Idylle Schreckliches passiert ist. Lediglich ein Gedenkstein und ein kleines Holzhaus mit Info-Tafeln geben Hinweise auf diesen Schreckensort, auf die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus.

 „Geschichte“, so der Ortsheimatpfleger, ist für viele Menschen „Geh` weg, ich komme.“ So wurde auch in den meisten Familien nach dem Krieg das Thema Nationalsozialismus vollkommen ausgeklammert.

Wie kann das sein? Dass der Ortsheimatpfleger seine Informationen über das KZ-Außenlager Nüxei in Schulen anbietet, aber dankend Ablehnung erhält, weil der Ort ja so weit außerhalb liegt und die Schüler*innen einen Fußweg von 3 Kilometern zurücklegen müssten?

Wie kann das sein, dass wenige Kilometer weiter, in Thüringen, eine gesichert rechtsextreme Partei 30 Prozent der Wählerstimmen erhalten hat. Wie kann das alles sein?

A.K.

 

Projektleitung: Laura Marahrens, Freie Altenarbeit Göttingen e.V.,

Am Goldgraben 14, 37073 Göttingen, Tel. 0551 – 43606, E-Mail: kontakt@ortemitgeschichte.de

 


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Projektleitung:

Laura Marahrens

Dieses Projekt ist Teil der „Partnerschaft für Demokratie im Landkreis Göttingen“. Es wird gefördert durch das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“

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