Ich bin sprachlos
Albert: warst du nicht sprachlos beim ersten Wiederkommen?
Warum bist du überhaupt wiedergekehrt?
Was wolltest du finden? Du ‚asozialer Arbeitsscheuer‘ – das war deine menschenverachtende Klassifikation als Straftäter unter den Nazis.
Wir sitzen im Kreis auf einer Wiese im warmen Nachmittags-Sonnenlicht – mal wieder.
Eine kleine hölzerne Gartenhütte dient als Info-Center des KZ-Aussenlagers Nüxei; daneben ein Felsbrocken mit Gedenktafel. Es sieht alles so unschuldig und spurenlos aus.
Wir hören der Geschichte dieses Ortes zu. Später lese ich mehr in einem publizierten Bericht des Ortschronisten.
Die Fläche des KZ ist heute eine verbuschte Wiese mit wenigen Bäumen. Kein Baum, kein Busch ist so alt, dass er Zeuge gewesen wäre.
Gegenüber ist eine Pferdekoppel. Eingezäunte Grasweide – keine Savanne für Zebras. Die Weide erscheint fast grösser als damals euer Pferch mit zwei Baracken, umgeben von Stacheldrahtzäunen und Wachtürmen. Ihr Zebras in eurer gestreiften Kleidung.
Grausames wurde hier gelebt. Grausamkeiten erlebt. Der ewige Hunger bohrte tief im Körper. Survival of the fittest. Menschen starben an Krankheiten und an Hunger. Die Leichname wurden auf Haufen gestapelt im Depot. Andere Menschen bewachten und kommandierten die eingepferchten Zebras. „Wir mussten auch hungern, warum sollten denn Häftlinge etwas zu essen bekommen?“ Das erinnert an die heutige Migrationsdebatte. Es geht um Wertigkeiten von Menschen. Manche sind mehr wert als andere. Warum?
Albert: als du zuerst zurückkamst, fast 30 Jahre später, wurdest du immer noch als Häftling beschimpft und verjagt von Ortsansässigen. Hatten sie kein Gewissen? Trotzdem kamst du wieder. Es gibt ein Foto mit dir zur Einweihung des Gedenksteins in Nüxei 1999 – erst 1999! Wolltest du ihnen mit deiner beharrlichen Widerkehr ins Gewissen dringen?
Unvorstellbar, dass die rund 300 KZ-Insassen Heiligabend stundenlang, z.T. barfuss in Holzpantinen auf gefrorenem Boden des Appellplatzes stehen mussten, weil sie verweigerten, auf die Darbietung des Mackenröder Kirchenchores ein Weihnachtslied zu erwidern, und dass die Dorfleute daraufhin mit ihren Geschenkpäckchen wieder abzogen. Es ging ja ‚nur‘ um Zebras – Straftäter eben. Eine Episode nur im grossen Leiden. Ich werde diese Vorstellung nicht los. Oh du fröhliche!
Gut zu wissen, Albert, dass du tagsüber einem halbwegs menschlichen Lokführer zugeteilt warst, der dich bei der Arbeit anleitete. Du warst privilegiert in dieser Baubrigade der nie fertiggestellten Helmetalbahn. Gut auch, dass du deine Erlebnisse erzählt hast und sie ein offenes Ohr fanden. Sonst wüssten wir kaum etwas über dieses KZ-Aussenlager Nüxei. Und darüber, wozu Menschen fähig sind, wenn sie meinen, Zebras vor sich zu haben.
Ich fühle mich sprachlos.
Die Gegensätze der heutigen Idylle des Ortes und seiner sehr dunklen, grausamen Geschichte sind zu krass.
Albert van Dijk war ein Niederländer, der als 22-Jähriger nach Stationen in Buchenwald und Dora das KZ-Aussenlager Nüxei überlebte und im Laufe seines Lebens mehrfach an diesen Ort seines Leidens zurückkehrte.
Brigitte
Göttingen, 22. Oktober 2024
Projektleitung: Laura Marahrens, Freie Altenarbeit Göttingen e.V.,
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