Es ist eine lange und unwegsame Fahrt von Göttingen nach Nüxei, ich folge brav im 2. PKW der vorausfahrenden ortskundigen Fahrerin. Eine abgelegene Dorfstraße, Gehöfte, wohl gehörend zu einem gepflegten Bauernhof, hügeliges Gelände gemischt mit Wiesen und Baumbewuchs. Wir halten an der Seite eines holperigen Feldweges – 3 PKWs mit insgesamt 10 TeilnehmerInnen.
Der Ortsheimatpfleger Burkard Schmidt erwartet uns. Die ersten und spontanen Eindrücke werden verwischt von ausführlichen etwa 1-stündigen Informationen, die wir im Kreis sitzend und später in der Hütte nebenan erhalten.
Ich suche wenig erfolgreich nach Spuren eines KZ-(Außen)-Lagers. Nur ein Gedenkstein und eine Tafel mit ein paar Büschen darum herum sind die Erinnerung, dies inmitten einer hügeligen Wiese mit Sträuchern und ein paar Bäumen. Links ein umzäuntes Grundstück, auf dem gerade das Gras gemäht wird. Oberhalb ein gepflegter Bauernhof mit gedämpften landwirtschaftlichen Geräuschen. Alles erscheint normal, eben wie eine dörfliche, bäuerliche Landschaft. Während unserer Informationsrunde werden dazu noch einige Stuten mit ihren Fohlen nur wenige Meter an uns vorbei auf eine gegenüberliegende Wiese geführt. Sie verteilen sich schnell, grasen friedlich nach kurzer Zeit der Unruhe wohl wegen der ungewohnten Besucher so nah.
ALLES so normal!
Nicht aber die Informationen des Ortsheimatpflegers.
Er berichtet vom Leben im Lager, das im Sommer 1944 von KZ Zwangsarbeitern im Eilverfahren errichtet und Anfang April 1945 noch eiliger in Todesmärschen verlassen wurde. Die Bedingungen ließen nur die Stärksten überleben. Auf dem Grundstück gab es eine Leichensammelhütte. Wofür wurden sie gesammelt? Zum späteren Sammelabtransport? Zur Verbrennung? Zum Verscharren? Eine Menge Leichen lässt sich schwerlich verscharren!
Die detaillierten Informationen, der uns berichteten Ereignisse stammen im Wesentlichen von einem Häftling, der überlebte und über viele Jahre immer wieder an die Stätte seiner schwierigsten Erinnerungen zurückkehrte. Ein damals junger holländischer Zwangsarbeiter, der beim Bau der Helmetalbahn bei der Beheizung der Loks eingesetzt war. Ein Ereignis steht bei den Berichten für mich im Vordergrund, nämlich ein entlaufenes Huhn, das eine Gruppe der Häftlinge gefangen und sofort aufgegessen hatte. In rohen Zustand?? Wie sonst?? Eine Zubereitung in auch nur irgendeiner Form scheint unter den Umständen schlicht nicht möglich. Dieser junge Mann hatte unter Androhung grausamster Repressalien gegen alle der Gruppe die Schuld des Diebstahls auf sich genommen. Die ihm zugeteilten Strafen mag man sich nicht vorstellen. WAS aber besonders schockierend für mich ist, das ist die Tatsache, dass die einheimische Bevölkerung IHN als Hühnerdieb brandmarkte, ihn beschimpfte und bedrohte. Auch bei seinen späteren Besuchen wurde er immer wieder als Hühnerdieb identifiziert und verjagt.
Nicht nur die NS Schergen waren also die Peiniger, die ländliche Bevölkerung reihte sich perfekt ein.
Ein für mich beklemmendes Fazit: Die unter entsetzlichen, grausamsten Bedingungen festgehaltenen und ausgebeuteten Häftlinge hatten keinerlei Unterstützung aus der ansässigen Bevölkerung zu erhoffen!
Die Gedenkstätte an sich?
Wie kann ein Flecken Erde in einer bäuerlich-ländlichen Umgebung so spurlos die schwierigste aller Vergangenheiten tilgen? Wie kann es sein, dass sich mit dem Gras, mit den Pflanzen, mit den Bäumen ein totales Verdrängen und Vergessen eines solchen Grauens erzeugen lässt, alles zugedeckt ist? Nichts sollte erinnern an Gräueltaten, an eine nicht zu messende Schuld!
Und für mich schockierend – es ist auch nichts geblieben!
Ein Stein? Eine kleine Tafel? Eine Hütte mit einigen Schrifttafeln an den Wänden?
Die Gedanken verwirren sich! Es bleibt Starre, Beklemmung, Hilflosigkeit, Trauer!
Ute Schmidthals
Projektleitung: Laura Marahrens, Freie Altenarbeit Göttingen e.V.,
Am Goldgraben 14, 37073 Göttingen, Tel. 0551 – 43606, E-Mail: kontakt@ortemitgeschichte.de
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