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Einer zu viel

 

Jeder Mord ist einer zu viel. Egal wo.

Alexander Selchows schlichtes Grab auf dem Rosdorfer Friedhof wird von einer lokalen Gärtnerei gepflegt. Es unterscheidet sich wenig von anderen in unmittelbarer Nachbarschaft.

Fast täglich berichten nun Medien über Messerangriffe an verschiedenen Orten Deutschlands, die zum Teil tödlich ausgehen. Messerangriffe? Müssen wir uns – wieder – fürchten?

Jede Gewalttat ist eine zu viel! Egal gegen wen.

Aber damals, vor über 30 Jahren, war es eher ungewöhnlich dass es ein Messer war, mit dem Alexander getötet wurde – oder nicht? Überhaupt, dass ein Mensch in Deutschland und gleich so in der Nachbarschaft gewaltsam zu Tode kam, im kleinen Ort Rosdorf bei Göttingen!? Erschütternd!

Jedes Tötungsdelikt ist eines zu viel. Egal wo.

Dass sowas in Deutschland passierte und ganz in der Nähe wusste ich – im Prinzip. Aber mir fehlt ein Jahrzehnt – die Erkenntnis hat mich erschüttert. Wie ein Blackout. Das bewegte Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung. Ein Jahrzehnt ohne oder mit nur wenig Erinnerungen in Deutschland.

In der Zeit, während hier Glatzen und Skinheads durch die Lande zogen und für manche das Leben unsicher machten, musste ich mich in Kolumbien vor einer beispiellosen Gewaltspirale der ‚Narcos‘ – kolumbianischer Drogenkartelle – und gewaltbereiter, ehemals linksgerichteter Terror-Gruppen – manche nennen die noch heute relativierend ‚Guerrilla‘ – sowie Paramilitärs in Acht nehmen. Es schränkte unser Leben ein in den 1990ern. Abends gingen wir nicht mehr raus. Im Dunkeln nicht. Und zu Fuss sowieso nicht. Fuhren nur selten zu Veranstaltungen, immer mit allen ‚Antennen‘ hoch. Rote Ampeln waren ‚Empfehlungen‘ – lernte ich, denn wenn man anhielt, konnte man schnell Opfer eines bewaffneten Autoraubes, einer Entführung oder sonstigen Verbrechens werden. Es war die Zeit, in der Diana Turbay 1990 (†25.01.1991) oder später (2002) Ingrid Betancourt entführt wurden – nur zwei prominentere Namen unter im Mittel unvorstellbaren ~500 Entführten pro Jahr in Kolumbien. Die Zeit, in der in der 2-Millionenstadt Cali jährlich 60-70 Tötungsdelikte pro 100.000 Einwohner stattfanden – eine Art angsteinflössender Weltrekord – Zahlen - Namenlose.

Wo sind all diese Toten begraben? Wer pflegt ihre Gräber? Wer erinnert an ihre Namen – wenn nicht gerade ein Literatur-Nobelpreisträger wie Gabriel García Márquez über sie schreibt z.B. über Diana Turbay (‚Nachricht von einer Entführung‘).

Jahrzehnte nach Alexanders Tod, als politisch rechte Strömungen in Deutschland wieder Aufwind bekamen, entschieden engagierte Rosdorfer Bürger, einen Alexander-Selchow-Erinnerungsweg anzulegen, um den Anfängen zu wehren.

Jeder gewaltsame Angriff ist einer zu viel! Egal gegen wen.

Anfang des Jahres strömten zigtausende auf die Strassen der Städte Deutschlands, um für Demokratie zu demonstrieren – gegen Rechtsextremismus – ich auch. In Göttingen abends im Dunkeln, manchmal noch spätabends mit meinem Hund Gassi zu gehen – unbeschwert und ohne mich fürchten zu müssen – erscheint mir als bemerkenswerte Lebensqualität.

Wir sollten alle wachsam sein, dass das so bleibt, hellwach!

 

Brigitte

 

Göttingen-Geismar, 6. November 2024

 

Projektleitung: Laura Marahrens, Freie Altenarbeit Göttingen e.V.,

Am Goldgraben 14, 37073 Göttingen, Tel. 0551 – 43606, E-Mail: kontakt@ortemitgeschichte.de

 


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Projektleitung:

Laura Marahrens

Dieses Projekt ist Teil der „Partnerschaft für Demokratie im Landkreis Göttingen“. Es wird gefördert durch das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“

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