Sonntag, endlich frei vom Trott und daher raus aus Göttingen. Wohin soll es denn gehen, frage ich Werner. Er: Einfach Richtung Osterode, oder ? Zustimmend nicke ich. Also nichts wie los zu einer Erkundungstour, Freude keimt auf.
Den Luxus als Beifahrerin genießend betrachte ich die im Sonnenschein liegenden Landschaften und Dörfer jenseits der Straße. Ruhig fahren wir dahin. Nach einiger Zeit meint Werner, lass uns eine Pause einlegen, die Beine vertreten irgendwo. Okay, runter von der Hauptstraße folgen wir den Seitenstraßen. Ein Hinweisschild nach Tettenborn leitet uns weiter, dann kommt eine Siedlung - Nüxei lautet das Ortsschild. Welch ungewöhnlicher Name. Entlang der Straße sind nur wenige Gebäude. Gegenüber von einem dominanten Hofgut ist ein Feldweg zu sehen, wir biegen ein. Das Auto, ganz am Rande zu einer Wiese parkend, können wir aussteigen. Den Körper dehnen und tief atmen, tut gut. Wir schauen uns um. Geradeaus geht's in die freie Feldmark; links ist ein großer, parkartiger Garten zu bewundern. Darinnen ein Haus auf leichter Anhöhe umgeben von gepflegtem Rasen, Staudenbeeten, Sträuchern und Bäumen. Augenscheinlich wird dieses Anwesen mit viel Zeit und Aufwand so schön erhalten.
Wir gehen weiter in Richtung freie Landschaft, doch warum steht hier unweit ein kleines Holzhaus? Mehr eine Hütte nur. Nähertretend erkennt man eine Inschrift "Information Gedenkort Helmetalbahn 1944-45". Und daneben ein Stein mit einer Metalltafel "KZ-Außenlager Nüxei". Erschrocken schauen wir einander an, doch nicht hier an diesem idyllischen Ortsrand - ganz nah neben den Häusern eines solch kleinen Dorfes. Eiskalt wird es mir, zerstört ist die Vorfreude auf einen entspannten Spaziergang. Weißt Du was darüber? frage ich stockend Werner. Nein, so absolut Nichts, antwortet er sehr leise.
Irgendwie hilflos halten wir inne. In meinem Kopf kommen drastische Bilder auf - unmittelbar; die durch die Auseinandersetzung mit unserer grausamen Vergangenheit des Dritten Reiches ihren Platz gefunden haben. Davonlaufen möchte ich, abschütteln was mich nun bedrückt. Wo ist der leichte Sonntag hin?
Werner geht schweigend in die offene Hütte. Ihm nicht folgend betrete ich das Gelände dahinter. Es grenzt an den parkartigen Garten an und ist in Teilen verwildert; einige Bäume, davon ein Abgestorbener, Büsche und Wiese. Dazwischen ein Betonfundament, eingewachsen von Gras und Klee. Vielleicht die Bodenplatte einer Gartenlaube. Später wird klar, dies ist der einzig sichtbare Rest eines der Gebäude vom Arbeitslager.
Werner kommt hinzu und berichtet nur teilweise und knapp, nachdem ich es bejahte davon hören zu wollen, über die in der Hütte dargestellten Informationen.
Ein Aussenlager war hier mit 300 Häftlingen aus Buchenwald und Dora zur Errichtung eines Bahndammes für die Helmetalbahn. Eine Reichsbahnstrecke war geplant zwischen Osterhagen und Nordhausen. Die Strecke ging nie in Betrieb. Das Lager bestand von Juni 1944 bis Anfang April 1945. Geschunden wurden viele der Männer bis zum Tode. Zuvor total ausgemergelt und nahezu verhungert zur Arbeit getrieben Tag für Tag, von herzlosen Vollstreckern eines Systems der Vernichtung und Menschenverachtung. Den Anhängern einer Wahnideologie. Bei der Auflösung des Lagers, eines von sechs im Südharz, sollten die Überlebenden zu Fuss bis nach Buchenau getrieben werden, es waren die Todesmärsche.
Was aber war mit den Bewohnern von Nüxei, so direkt mit ihrem Alltag und ihrem Erleben in der Nachbarschaft eines solch fürchterlichen Lagers, den gequälten Insassen? Kein Bedauern, kein Erbarmen, kein Mitgefühl - um vielleicht den Versuch zu wagen, heimlich Brot über den Zaun zu werfen, denn die Leidenden bekamen nur Wassersuppen mit Kohlblättern. Die Häftlinge wurden nicht als Mitmenschen betrachtet oder wenn doch, war sicher die Angst entdeckt zu werden und bei einem Versuch von Hilfe selbst erschossen zu werden übermächtig. Fragen drängen sich auf: Wäre auch ich tatenlos geblieben? Hätte mein Abendbrot mir noch gut getan? Wären meine Nächte schlaflos gewesen?
Alles an Informationen aufzunehmen von Werners Mitteilungen oder selbst zu lesen auf den Tafeln - war mir nicht möglich. Es überforderte mich, denn wohl wissend, dass meine sehr rege Vorstellungskraft schnell brutale Bilder und schmerzhafte Wahrnehmungen entstehen lässt, musste ich mich abwenden, ins Gras setzen. Ein Versuch zum Selbstschutz, jedoch von dem Bedauern begleitet, nicht stärker zu sein für eine Auseinandersetzung.
Nochmal bewusst wieder zu kommen, Weiteres aufzunehmen und mehr erfahren zu wollen zur Geschichte dieses Ortes. Dies ist ein Wunsch und die zweite Chance der Gedenkstätte in Nüxei gerecht zu werden.
i.happ
Projektleitung: Laura Marahrens, Freie Altenarbeit Göttingen e.V.,
Am Goldgraben 14, 37073 Göttingen, Tel. 0551 – 43606, E-Mail: kontakt@ortemitgeschichte.de
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