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Alex

 

Weihnachten 1990. In unserem Wohnzimmer auf dem Fußboden sitzt ein dünner, blonder Junge, so 16 oder 17 Jahre alt und spielt mit den kleinen Brüdern seiner Freundin mit Legos. Ausdauernd, fröhlich, freundlich. Meine Tochter meint nur dazu: „Ist doch gut, er braucht das. Bei ihm zuhause ist es nicht so schön.“ Na gut, der junge Mann ist höflich, auch recht anhänglich, ich finde, meine Tochter behandelt ihn wie einen Bruder, nein, eher wie einen netten Kumpel. Irgendwie schwingt da aber Mitleid mit. Und nochmal, na gut, bleibt er halt zum Essen - Macht hoch die Tür, die Tor macht auf - und als wir am Nachmittag wieder die Kerzen am Tannenbaum anmachen, ist er immer noch da und freut sich. Dann denkt meine Tochter sich wohl, dass es genug Weihnachts-Idylle gewesen ist, der junge Mann wird verabschiedet.

So ganz klar ist mir nicht, woher die beiden sich kennen, sie gehen nicht auf eine Schule, anscheinend kennen sie sich aus der Disco oder von einer Party. Zwei Tage später ist er wieder da, eher überraschend, sitzt am Esstisch und wird diesmal allerdings recht schnell verabschiedet.

Und dann, ein paar Tage später, steht in der Zeitung, dass ein junger Mann in der Silvesternacht in Rosdorf ermordet worden ist, einer, der doch erst an unserer Schule, der IGS, Abitur gemacht hat. Beziehungstat! Ganz schnell machen in Jugendkreisen, bei den Schülerinnen und Schülern der IGS ganz andere Informationen die Runde. Alexander ist von zwei Nazis erstochen worden in Rosdorf auf dem Weg von einer Party zu seiner Oma, um ihr ein gutes neues Jahr zu wünschen. Alex war links, ein Grufti, trotzdem bei der Bundeswehr, eher so ein Sanfter, aber den Mund hat er immer aufgemacht, auch gegenüber den Rechten, und von denen gab es eine Menge, die in Rosdorf sich versammelten und Leute anpöbelten.

Entsetzen bei den IGS-Leuten, auch Zorn und Wut, vor allem, weil die Tat so heruntergespielt wurde. Damit wird Alex gleich nochmal umgebracht!

Der blonde Junge steht wieder vor der Haustür. Meine Tochter lässt ihn nicht rein. Schickt ihn weg.

Sie kommt zornig, aber auch verwirrt zu uns, erzählt, dass sie von einer Mitschülerin erfahren hat, dass dieser blonde Junge etwas mit den Rosdorfer Nazis zu tun hat, dass er auf der Party der Nazis in der Silvesternacht gewesen sei, dass sich die Polizei auch für ihn interessiert, dass sie nie über Politik gesprochen haben, dass sie nicht wusste, dass er mit den Rechten sympathisierte, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben will.

Wir wissen nicht, was aus ihm geworden ist.

Wir wissen nur, dass ein anderer junger Mann ermordet wurde, dass zwei Nazis ihn erstochen haben, zwei, die auf ihrer Party verkündet haben, dass sie „Linke klatschen“ wollten.

Und wir wissen, dass offizielle Stellen noch immer behaupten, es sei eine Beziehungstat gewesen. So wie viele Morde von Rechten immer noch als Beziehungstaten gesehen werden.

Der Erinnerungsweg für Alexander rückt einiges gerade, gibt ihm Würde zurück, tröstet vielleicht Hinterbliebene. Und mahnt uns, niemals, niemals rechtes Gedankengut zu relativieren, ihm eine Bühne zu geben.

Karola

 

Projektleitung: Laura Marahrens, Freie Altenarbeit Göttingen e.V.,

Am Goldgraben 14, 37073 Göttingen, Tel. 0551 – 43606, E-Mail: kontakt@ortemitgeschichte.de

 


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Projektleitung:

Laura Marahrens

Dieses Projekt ist Teil der „Partnerschaft für Demokratie im Landkreis Göttingen“. Es wird gefördert durch das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“

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