Der Friedhof liegt weit draußen. Nur ein kleines Holzschild weist den Weg. Rolling hills, Hecken und Gebüsche entlang der Wege. Mais und abgeerntete Getreidefelder dazwischen. Umfriedet ist er nur von einer Weißdornhecke und am Eingang ein schmiedeeisernes Tor zwischen zwei steinernen Pfosten. Ein sonniger Spätsommernachmittag. Knallblauer Himmel und ein warmes Lüftchen. Man hört kaum Geräusche vom Dorf. Das Tor steht offen, ein Davidstern daran, kleine Inseln höher gewachsener Pflanzen in der Wiese. Wir sind weit draußen vom Dorf entfernt. Aus der Ferne hört man Autos vorüberfahren, ein Traktorengeräusch, dann nur noch den Wind. Am Horizont drehen sich Windräder. Ein Rind blökt.
Spontane Frage: Wer kommt euch hier besuchen?
Auf den ersten Blick erscheint sie ziemlich dicht. Aber es gibt Lücken in der Weißdornhecke, durch die man leicht hindurchkommt. Nichts ist so hermetisch abgeschirmt wie die mir bekannten Großstadt Jüdischen Friedhöfe. Mitten im Weißdorn wachsen vereinzelt Holunder, Rosen, Brombeeren und andere meist dornige Pflanzen. Die Hecke ist der einzige Ort, der ein wenig Schatten spendet an diesem Spätsommernachmittag.
Beobachtung: Hier wird nichts befürchtet, keine Schändung.
Es ist eine Wiese, auf der die Grabsteine stehen. Gras gemischt mit viel Weißklee und Kräutern, besonders Schafgarbe und Wegerich, fühlt sich grün und angenehm kühl an den Füßen an. Kleine Inseln seltener gemähter Pflanzen wurden gelassen. Der Rotklee ist am Verblühen, von den Korbblütlern blieben nur die Fruchtstände, die sich im Wind bewegen. Die zartlila Blütenköpfe der Ackerwitwenblume leuchten im frischen Grün der Blätter. Ein einzelner Vogelbeerbaum steht ganz hinten, spendet ein wenig Schatten. Weißlinge flattern über die Wiese und zwischen den Grabsteinen.
Ich sitze an die Weißdornhecke geschmiegt im schmalen Schattenstreifen – lasse den Ort auf mich wirken. Die Grabsteine stehen in Reih und Glied: vier Reihen, oben am Hang, 44 Steine. Die Grabsteine sehen alt aus, sie sind verwittert und von Moos und gelblichen oder graubräunlichen Flechten bewachsen. Wenige Grabsteine sind aus dunkelrotem Buntsandstein. Die meisten der rechteckigen Grabsteine haben ihre klare Form bewahrt, sind oben abgerundet, andere gerade, zwei laufen spitz zu und nur einer hat eine Verzierung oben, ein bisschen barock. Die Grabsteine sitzen auf Steinsockeln und werfen regelmäßige Schatten ins Gras der Nachmittagssonne. Die hebräischen Inschriften könnten lesbar sein für diejenigen, die sie zu entziffern vermögen. Ich kann das nicht. Viele der Grabsteine auf den jüdischen Friedhöfen in Hamburg und Worms, die ich besuchte, waren sehr viel älter, andere wesentlich jünger.
Die Toten haben ihre Ruhe hier oben, fern vom Dorf, mit guter Aussicht. Aber es gibt keine neuen Grabsteine. Und es stehen ja nur die Steine hier zur Erinnerung oder gar als Mahnmal? Denn es gibt hier keine Gräber. Gab es keine Juden mehr, die in Bremke gestorben sind?
Auf einzelnen Grabsteinen liegen Kieselsteine – sie wurden besucht. Wenn ich Tante Franziska und Onkel Reinhard auf dem Hamburger Jüdischen Friedhof besuchte, hatte ich auch Besuchskiesel dabei. Tante Franziska schenkte ich zusätzlich einen schönen Blumentopf – je nach Jahreszeit. Ich bin mir sicher, sie würde die Blumen mögen, denn sie war nicht allzu orthodox in ihrem Jüdischsein. Für ihre Eltern Heinrich und Marie Mayer wurden in Hamburg Stolpersteine gesetzt, sie starben in Theresienstadt und Auschwitz. Zwar hatten sie die Schiffspassagen nach Amerika gekauft, konnten aber keine Visa bekommen. Tante Franziska und ihr Bruder erreichten nach mehrjähriger Flucht Peru, wo sie mit der Familie eines weiteren Bruders, Wilhelm „Don Guillermo“ Mayer, ganz gut lebten, bevor der Terror des „Leuchtenden Pfades“ (Sendero Luminoso) sie erneut in die Flucht trieb. Im heimatlichen Hamburg starben sie beide hochbetagt und wurden auf dem Jüdischen Friedhof beigesetzt. Obwohl die Familie in alle Welt verstreut ist, müssen Menschen an ihre Gräber kommen: bei jedem meiner Besuche fand ich reichlich Kiesel auf Tante Franziskas und Onkel Reinhards Grabsteinen.
Frage: Ich habe einen Besuchskiesel mitgebracht, wem lege ich ihn auf den Grabstein?
Die Grabsteine hier sind alle anonym für mich. Wie soll ich einen erwählen, um meinen Besuchskiesel abzulegen? Aus Gerechtigkeit auf einen Grabstein, der bisher keinen offensichtlichen Besuch hatte. Aber das sind die meisten. Schließlich entdecke ich, dass auf der dem Tal abgewandten Seite der Grabsteine kaum lesbare deutsche Inschriften sind. Ich meine eine Anna zu finden mit unleserlichem Nachnamen, für sie ist mein Besuchskiesel.
Langsam wird der Schattenstreifen der Weißdornhecke breiter. Man kann hier ganz ruhig werden. Geräusche nur aus weiter Ferne künden davon, dass da draußen noch Leben ist.
Wer kommt hierher? Gibt es (lebende) Nachfahren? Wo leben die? Werden jüdische Feiertage hier begangen? Viele Fragen. Fast alle bleiben unbeantwortet an diesem Ort.
Brigitte
Projektleitung: Laura Marahrens, Freie Altenarbeit Göttingen e.V.,
Am Goldgraben 14, 37073 Göttingen, Tel. 0551 – 43606, E-Mail: kontakt@ortemitgeschichte.de
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